Georgien – DER ZORN VERRAUCHT NICHT
HEUTE ist der Unabhängigkeitstag von Georgien.
Georgien ist ein kleines, aber für Europa wichtiges Land. Zwischen seinen Bergen pulsiert eine Lebensader für Europa: Gas und Öl vom Kaspischen Meer und aus Zentralasien jagen unter der Erde durch das Land auf westliche Märkte – überqueren hohe Berge, weite Steppen und ungezählte Flüsse. Über der Erde jagen LKWs auf einer neuen Autobahn durch Täler und Tunnel, mit Ladungen von China nach Europa und zurück – der mittlere Korridor der neuen Seidenstraße. Seit dem Krieg in der Ukraine hat er nochmals an Bedeutung gewonnen. Rund 80 % der Waren, die vor dem Ukraine-Krieg auf der schnelleren Nordroute, durch Kasachstan und Russland nach Europa gelangten, reisen jetzt durch den Kaukasus. Insbesondere aber sind es die Energieleitungen, auf die Russland mit Ärger blickt, denn sie finanzieren den Aufbau der Staaten, die zu Sowjetzeiten unter Moskaus Ägide standen. Seit Europa kaum noch Gas und Öl aus Russland bezieht, um nicht den Krieg Russlands in der Ukraine zu finanzieren, steigen die Transportmengen deutlich.
Die Menschen in Georgien wissen davon eher wenig. Allerdings spüren sie, wie der Einfluss Russlands auf Georgien seit Monaten wächst, und wie die Russland-freundliche Regierung der „Georgia Dream“-Partei ihre Rechte zunehmend einschränkt. Der Unmut darüber wächst in der Bevölkerung. Auch darüber, dass Russland seit dem Krieg 2008 weiterhin 20 Prozent des Landes besetzt.
Aus den letzten Wahlen im Herbst 2024 ging jetzt regierende Partei “Georgia Dream” als Sieger hervor. Doch es mehren sich Zweifel, ob sie die Mehrheit der Gesellschaft vertritt und unterstützt. 20 Jahre nach der Rosenrevolution haben sich die Menschen an neue, demokratische Freiheiten gewöhnt.
Unterdessen baut die von dem Oligarchen Bidsina Iwanischwili geprägte, nach Moskau ausgerichtete “Georgia Dream” ihren Einfluss weiter aus und setzt die Zivilgesellschaft mit neuen Gesetzen und Strafmaßnahmen zunehmend unter Druck.
Abend für Abend stehen deshalb über tausend Georgierinnen und Georgier vor dem Parlament in Tiflis und demonstrieren. Sie fordern Neuwahlen und Sanktionen gegen die politischen Akteure, die das Land näher an Russland führen.
Mit meinem Beitrag möchte ich den Demonstrierenden eine Stimme geben. Ich kenne Georgien von innen, seit über 20 Jahren, und war gerade wieder dort.- Die Namen der interviewten Personen habe ich geändert.
Tiflis, Georgien
Eine elegant gekleidete, 80-Jährige sitzt schweigend vor dem Parlamentsgebäude in Tiflis, Georgien, und schwenkt drei kleine Fähnchen: Georgien, Ukraine, und EU. Es ist acht Uhr abends, die Lichter der Stadt leuchten. Vor, neben und hinter ihr laufen, stehen, rufen hunderte Demonstranten.
„Dies ist mein Platz und ich muss hier stehen. Ich komme aus Sochumi und sollte sonst nicht hier stehen. Ich stehe hier und werde so lange wie nötig an der Seite dieser jungen Menschen stehen, denn es herrscht große Ungerechtigkeit in diesem Land, und ich werde hier stehen, solange ich kann.“ erklärt Nati mit entschlossener Stimme.“
Nati ist eine von sehr vielen Georgierinnen und Georgiern, die überzeugt sind, dass die jetzt amtierende Regierung zu Unrecht regiert und durch Wahlfälschung an die Macht gekommen ist.
Jeden Abend kommt sie zum Parlamentsgebäude, bereits über 120 Tage, so wie viele andere, die seit den letzen Wahlen am 28. Oktober 2024 gegen das offiziell verkündete Ergebnis der Wahlen protestieren. Friedlich stehen sie von acht Uhr abends bis Mitternacht auf der Rustavelli, der Hauptstraße. Die Polizei hat sie gesperrt. Zu anderen Zeiten tobt hier der Verkehr auf vier Spuren.
Auch Ekaterina, 45 Jahre alt, zählt zu aktiven Gegnern der amtierenden Regierung. Inmitten hunderter Demonstranten steht sie vor dem Parlament, so wie jeden Abend, bei Sonne und Regen, bei Schnee und Eis.
„Ich protestiere gegen die Tatsache, dass die russische Regierung heute mein Land regiert. …Russland hat hier in Form unserer Regierung einen eigenen Vertreter. Wir hatten Hoffnung, dass sich das nach den Wahlen ändern würde, aber auch hier griff Russland mit seinen Methoden ein. Wir kämpfen alle, ob jung oder alt, darum, dies zu ändern und das Recht auf Neuwahlen zu bekommen, um irgendwie den Fängen Russlands zu entkommen.“
Seit dem vergangenen Herbst versammeln sich die Gegner der Regierung von Georgia Dream im Zentrum von Tiflis.
Die nach-Wahlbefragungen ergaben eine Mehrheit für die Opposition. Deshalb sagen viele in Georgien, die Wahlen seien manipuliert worden. Und tatsächlich gab es eine Reihe von unerklärlichen Sprüngen bei der Bekanntgabe der Ergebnisse, und einen deutlichen Unterschied zwischen den Befragungen und den offiziellen Ergebnissen.
Auch David demonstriert. Wie ein Baum steht der Anfang 60-er und schaut über die Menge. Es ist neu Uhr abends und die Demonstration erreicht langsam ihren Höhepunkt. Dabei geht es vor dem Parlament friedlich zu. Einige singen, andere halten Plakate mit ihren Forderungen hoch.
Hinter dem Parlament gibt es bereits handfeste Auseinandersetzungen mit Polizeikräften. In den sozialen Medien kursieren Videos, wie sogar auf dem Bürgersteig stehende Beobachter zu Boden gerissen und verpügelt werden. Doch das schreckt nur wenige.
„Ich stehe nicht zum ersten Mal auf dieser Straße.“ erklärt David, „das erste Mal war 1988, als die Sowjetunion gerade zusammengebrochen war. Dann erlangten wir die Unabhängigkeit.“
Erst 12 Jahre später begann das Land seinen Weg in Richtung Europa und Demokratie, „natürlich mit vielen Fehlern auf dem Weg.“ weiß er.
Im Jahr 2018 wartete Georgien gespannt ob es Aussicht auf Mitgliedschaft in der EU hätte. Aber Brüssel sah die Anforderungen noch nicht als erfüllt an. „ Wir wurden zurückgewiesen, was damals Putin einen enormen Auftrieb gab. Mit … patriotischen Parolen brachte er Bidsina Iwanischwili ins Amt, der eine Russland-freundliche Politik ins Land gebracht hat.“ meint David. Er fühlt sich von der EU unverstanden und von Russland betrogen.
Etwas weiter steht eine kleine Gruppe von Studenten. Ihre Gesichter haben sie hinter Masken und Schals versteckt. Einer von ihnen spricht Deutsch. Sie sind optimistisch, aber sie wissen, dass ihr Kampf ein langer werden könnte. Erst wollen sie nicht sprechen, denn sie wissen, dass viele Kameras die Demonstrierenden fotografieren. Doch dann sehen sie die Chance, ihr Anliegen auch ins Ausland zu bringen: Neuwahlen wollen sie, und Sanktionen gegen die Russland-freundlichen Akteure in Georgien.
Eka erklärt:
„Das Ziel dieses Protestes ist, dass wir nicht unter dem Einfluss des Staates stehen wollen, der 20 Prozent der Fläche unseres Landes übernommen hat, nämlich Abchasien und Ossetien. Ich erinnere mich gut an den Krieg von 2008 und an unsere illegitime Regierung, oh je!“
Auch die Methoden, mit denen die Regierung gegen Andersdenkende vorgeht, ähneln denen, die in Belarus die Demonstranten von den Straßen vertrieben haben.
„Viele der Demonstrierenden verdecken ihr Gesicht, denn seit den Wahlen geht die Regierung hart gegen sie vor. Bereits hunderte Menschen hat sie mit Bußgeld bestraft“ erklärt ihre Freundin Ekaterine, und der neben ihr stehende Joano ergänzt: „In einem so armen Land sind die Strafen unangemessen, die Leute können sie einfach nicht bezahlen.“
Strafgelder verhängt die Polizei seit dem Frühjahr für so genanntes Blockieren der Straße: 5000 Lari (etwa 2500 Euro) müssen alle bezahlen, die Kameras der Polizei auf Bildern erkennen. Bei einem Durchschnitts Gehalt von etwa 800 Lari (etwa 400 Euro) eine gewaltige Strafe.
„Ich bin heute seit 121 Tagen hier. Wir kämpfen wir für unsere europäische Zukunft, das ist für uns das Wichtigste. Wir fordern Neuwahlen, und den Rücktritt dieser russischen Regierung.“, stellt Levan fest. Gemächlich schlendert er durch die Menge. Maskiert ist er nicht, aber seine Schirmmütze hat er dabei tief in sein Gesicht gezogen.
„Ich habe keine Angst, ehrlich gesagt. Ja, die lauern überall auf. Aber ich habe keine Angst in meinem Alter,“ sagt Lehrerin Leila, 63. „Manche haben mehrere Strafen bekommen. Einige von uns haben für andere diese Strafen bezahlt, aber jetzt man hat die auch sanktioniert.“
Wer gut bei Kasse war, konnte auf ein Spendenkonto einzahlen und damit den Bestraften helfen. Aber dann hat die Regierung diese Fonds gesperrt, berichtet sie.
„Jetzt sammeln Geld, um einander diese Strafen zu bezahlen, bevor die Fristen ablaufen. Wir bezahlen wir dann aus eigener Tasche.“
In der Schule diskutieren die Lehrerinnen das Thema nicht, wohl aus Angst vor Strafe oder Kündigung. Aber abends, nach der Arbeit, da sind sie ebenso auf der Rustavelli Straße wie viele andere Demonstranten. Die ganze Entwicklung im Land und die Bedrohung, der sie ausgesetzt sind, schockiert und bedrückt Leila sehr. „Ich bekomme immer eine Gänsehaut, und Tränen in den Augen, wenn ich meine Schüler mit ihren Eltern und Großeltern zusammen mit einer Europa-Fahne sehe. Und wenn die mich so glücklich anschauen, dass ihre Lehrerin auch auf dem richtigen Weg steht, und dass ihre Lehrerin, die sie mögen, wirklich zu mögen ist. Also das sind sehr sensible Gefühle bei diesen Aktionen.“
Sie macht sich Gedanken über die Zukunft ihrer Schülerinnen und Schüler, die schon seit dem vergangenen Jahr gegen die Russland-freundliche Politik der Regierung protestieren.
„Die Jugend, die fast über ein Jahr auf der Straße steht, Tag und Nacht protestiert, denen gehört die Zukunft.… Was ich jetzt sehe, ist einfach schmerzhaft“.
Sie verweist auf einige ihrer minderjährigen Schüler, die hinter Gittern sitzen. „Es sind so nichtige Anlässe, weswegen man die hinter Gittern gesteckt hat. Es ist zum Weinen. Es hat nichts mit Logik zu tun, mit Gesetzen und mit Demokratie sowie so nicht.“
Sie macht sich Sorgen, was auf die Jugend zukommt. „Die wollen keine Diktatur, die wollen kein Russland, die wollen nicht diktiert werden was sie zu tun und was sie zu lassen haben. Die wollen alles selber entscheiden, und dafür kämpfen sie.“
Leila wird weiter demonstrieren, auch wenn gerade eine Freundin einen Bußgeldbescheid erhalten hat. Freunde und Kolleginnen sammeln bereits, um ihn rechtzeitig zu bezahlen. Widerspruch einzulegen, das habe keine Aussicht auf Erfolg, berichtet sie.
„Die Lage in Georgien verschlimmert sich von Tag zu Tag, was die Demokratie betrifft, wirklich täglich!“ berichtet Nika Chitadse. Er ist Professor für Politik an der Black Sea University. „Die Autoritäten machen weiterhin Druck auf die Oppositionsparteien und die Zivilgesellschaft. Das geht schon seit zwei, drei Monaten so. Die de facto Autoritäten des de facto Parlaments, haben mehrere Gesetze angenommen, die die Freiheit der Massenmedien beschneiden, wie zum Beispiel Kritik an der de facto Regierung.“
Bereits vor den Wahlen im Oktober hatte die Regierung das so genannte Agenten-Gesetz angenommen. Danach müssen sich ausländische Akteure in Georgien zu Agenten deklarieren. Das Vorbild dafür lieferte Russland.
„Heute wissen wir, dass dieses Gesetz sich gegen Europe richtet, und gegen den Westen. Sein Hauptziel ist es, die Zivilgesellschaft unter Druck zu setzen. Die entsprechenden Organisationen sollen sich registrieren, aber natürlich wird jeder sich weigern ein ausländischer Agent zu sein. Warum sollten sie ausländische Agenten sein? Weil sie Geld aus dem Ausland erhalten? Weil sie Georgien helfen?“
Nicht nur die Zivilgesellschaft setzt die Regierung unter Druck, aber auch Politiker, die das Land von 2004 bis 2013 im (pro-westlichen) „National Movement“ regiert haben. Die Beziehungen zum Westen verschlechtern sich damit weiter. Das wiederum schafft ein schlechtes Investitionsklima.
„Die Investitionen aus dem Ausland sind um 40 Prozent zurück gegangen. Die Europäische Union und führende demokratische Länder haben vorübergehend Investitionen gestoppt, die Georgiens Budget unterstütz haben, denn unsere de facto Regierung führt dieses Land langsam in die internationale Isolation. Niemand aus der Europäschen Union ruft an und kommt, um Hände zu schütteln.“ berichtet Nika.
Auch im Tourismus verliert Georgien an Bedeutung, was dem Land erheblich schadet.
„Der Tourismus hat einen Anteil von 12 Prozent am GDP. Jetzt kommen kaum noch Touristen, zum Beispiel in die Skigebiete. Dasselbe wird für die Erholungsgebiete im Sommer sein. Deshalb wird Georgien gewaltige Mengen an Einkommen vom Tourismus verlieren.“
Die ganz Entwicklung gehe auf Bidsina Iwanischwili zurück, da sind sich alle einig. Er habe diese Entwicklung eingeleitet, und keiner in seiner Partei habe sich dagegen aufgelehnt. Alle hätten sich untergeordnet. Er sei kein ehrenwerter Vorsitzender,
„aber ein Boss.“ Es sei eine Mafia, die das Land regiere, aber keine politische Partei.
Mit Mafia meint Nika die Oligarchen, die wie Bidsina Iwanischwili in den 90-er Jahren zu Reichtum gekommen sind, miteinander im Kontakt stehen und Einfluss auf die Politik nehmen. „Feuert die Oligarchen“ ist so zum Gruß unter all denen geworden, die Neuwahlen fordern.
„Die Regierung macht Druck auf die Opposition, und auf alle, die eine andere Meinung haben. Sie machen Fotos von allen, die auf der Rustavelli stehen, so wie ich.
Habe ich vielleicht die Straße blockiert? Ich habe nur da gestanden, habe meine Meinung zum Ausdruck gebracht.“ Auf den allabendlichen Demonstrationen trifft er viele seiner Kollegen, Schauspieler, Journalisten, und Künstler.
„Die Situation ist schwierig, und sie wird immer schwieriger, und das ausgerechnet zu einer Zeit von Spannungen zwischen Amerika und der Europäischen Union, und den Themen, die mit der Ukraine verbunden sind.“ stellt er nüchtern fest.
Auch auf die orthodoxe Kirche setzt er keine Hoffnung. Im Krieg Russlands gegen Georgien, 2008, hatte die georgisch orthodoxe Kirche eine mässigenden Rolle gespielt. Jetzt hat die Regierung die Kirche mit Geldgeschenken gefügig gemacht. Jetzt habe die Kirche hat eine sehr negative Rolle. „ 2024 haben Georgiens Autoritäten das Budget der Georgisch Orthodoxen Kirche von 25 Millionen Lari auf 60 Millionen Lari erhöht. Sie haben ihr Land gegeben. Daher stehen viele Priester unter dem Einfluss der georgischen Autoritäten und gleichzeitig unter dem Einfluss der Spezialeinheiten Russlands.“ stellt Nika fest.
Zwar gibt es auch Teile der Bevölkerung, die für den Kurs der Regierung sind, oder die nicht Stellung nehmen wollen.. Aber Die Demonstrierenden zeigen deutlich, dass ein großer Teil der Bevölkerung mit dem Russland-freundlichen der Regierung Kurs nicht einverstanden ist, und dass der Zorn auf die Regierung nicht verraucht. Immer wieder weisen Demonstrierende darauf hin, dass 20 % des Landes weiterhin von Moskaus Truppen besetzt sind, seit 2008.
Um die Lage zu ändern, könnte die Opposition ihre Rolle im Parlament wahrnehmen. So könnte sie auf das Geschehen im Parlament einzuwirken. Allerdings ist auch anzumerken, dass es an Führungspersonen mangelt. Ihre gemeinsame, starke Stimme hatte die Opposition in Salome Zurabishwili, der Präsidentin, die nach den letzten Wahlen nicht mehr im Amt ist. Mit dem Fern bleiben vom Parlament wollen die Regierungsgegner ein Zeichen setzen, und zeigen, dass die Wahlen nicht korrekt abgelaufen seien.
Wie es in Georgien weiter geht, hängt jetzt davon ab, ob die Opposition eine neue starke, gemeinsame Stimme findet, die nicht nur auf den Straßen, aber auch im Parlament zu hören ist. Und auch in Brüssel. Erst dann hat die Jugend in Georgien und die Demokratie im Land wieder eine Chance.
Die EU hat Georgiens Kandidaten-Status vorerst zurück genommen. Aber eine weitere Isolation des Landes wäre schädlich für die gesamte Region, und auch für die EU. Als Transportkorridor für Energieleitungen und Frachten ist der Süd-Kaukasus mit Georgien, Armenien und Aserbaidschan von großer transportpolitischer Bedeutung. Diese Route, also der mittlere Korridor auf der neuen Seidenstraße, hat durch Russlands Krieg in der Ukraine nochmals an Bedeutung gewonnen, weil jetzt weniger Waren über die nördliche, und viel mehr über die mittlere Rute zwischen Europa und China laufen. Der Kaukasus bildet die Brücke zwischen Europa, Zentralasien und China.